einige Gedanken zur Gefangenensolidaritätsarbeit (geschrieben im Zusammenhang mit den Ereignissen in Belarus)
In einem Moment starker Repression tendiert das betroffene Umfeld dazu, all seine Energie auf die Unterstützung der Gefangenen zu konzentrieren. Dies passiert häufig durch Briefe, Unterstützung von Freund_innen und Verwandten, die Publikmachung ihrer Fälle, Solidaritätsaufrufe, Spendenaufrufe, symbolische Solidaritätsaktionen und ähnliche Sachen. Mit unseren Worten scheinen wir wieder und wieder zu repetieren, wie überascht wir darüber sind, wie bösartig die repressiven Organe des Staates sind. Sie haben unsere Habseligkeiten genommen, uns ihre Namen nicht genannt, unseren Verwandten nicht gesagt, was vor sich geht, sie halten uns gefangen ohne die Gründe zu nennen (auch wenn unsere Gesundheit schlecht ist), glauben unseren Worten nicht, erzählen Lügen, schlagen uns, geben uns kein gutes Essen oder medizinische Versorgung - ganz im Allgemeinen; sie halten sich nicht an das Gesetz! Aber sind wir wirklich so überrascht? Warum sind wir immer noch schockiert, wenn wir die Logik dieses Systems am eigenen Körper spüren oder Gefährt_innen sie erleben?
Natürlich, all diese Dinge sind wirklich schlimm, um nicht zu sagen komplett wahnsinnig. Aber haben wir das nicht schon vorher gewusst? Kämpfen wir nicht gegen die herrschende Ordnung dieser Welt, sind wir nicht Anarchist_innen, weil wir wissen, wie beschissen das alles ist? Es fühlt sich an, als würden wir in Stücke gerissen werden durch den Schmerz, von unseren Geliebten getrennt zu sein, wissend, dass sie leiden könnten. Aber selbst wenn wir all diese äusserst wichtigen Emotionen erleben, sollten wir nicht vergessen, dass das Gefängnis uns nur die Spitze des Eisbergs zeigt. Es ist die konzentrierte Form dessen, was wir und alle anderen jeden Tag in unseren Leben fühlen und erfahren. Es gibt nichts überraschendes daran. Also gibt es auch nichts, um darüber zu jammern. Jedoch haben wir die Option, unseren Schmerz in Entschlossenheit zu verwandeln, unsere Kämpfe erst recht fortzuführen.
Das Beklagen all dieser Gemeinheiten wird hauptsächlich aus einer reformistischen Perspektive gemacht, um die Öffentlichkeit, die „Massen“, auf unsere Seite zu kriegen. Damit sie sagen: „Dieser gemeine Staat sollte nett sein zu den netten Anarchist_innen“. Aber was denken wir darin für uns und unseren Kampf zu finden? Mit dem Jammern über unsere Misshandlungen fragen wir die wichtigste aller Fragen dieses Themas nicht; was ist das für eine Gesellschaft die Gefängnisse braucht und wie können wir alles, was sie aufrechterhält überwinden?
Im Moment könnte es als die beste Idee erscheinen, zu sagen, „nein, ich habe es nicht getan“. Und vielleicht sogar „nein, ich würde so etwas nie tun (und ich kenne keine_n, die/der das tun würde)“. Wir könnten denken, dass es uns davor bewahrt, ins Gefängnis zu gehen. Aber bewahrt es uns wirklich davor oder bringt es uns zurück in ein viel grösseres Gefängnis; das Gefängnis des Einziehens unserer Köpfe vor dem System? Indem wir nicht in einen Dialog in der Sprache der Justiz treten -der uns sowieso nichts zu bieten hat- können wir ein bisschen der Freiheit behalten, die wir gewonnen haben, als wir uns dafür entschieden haben, zu kämpfen. Wir könnten denken, mit abstreiten verhindern wir mehr Repression. Aber wenn wir es nicht getan haben, hat es jemand anderes getan, somit geht die Suche nach den Schuldigen weiter. Und wenn sie die „wirklich Schuldigen“ nicht finden, können sie einfach jemanden dazu machen. Wir könnten auch denken, dass es eine gute Idee sei, uns oder (wenn wir uns immer noch in statischen Gruppen bewegen) unsere Organisationen von den Ereignissen zu distanzieren. Aber dadurch verkleinern wir nur den Kreis der möglichen Angreifenden und Unterstützenden. Genau in diesen Momenten ist es besonders wichtig hinter den Angriffen auf das System zu stehen. Wir müssen nicht sagen, wir haben es getan. Aber wir können sagen, dass wir denken, dass der Angriff nötig war und sein wird, bis die herrschende Ordnung zu Fall gebracht wird und etwas Neues beginnt. Indem wir dies sagen, geben wir eine äusserst notwendige und wichtige (Gefangnen-)Unterstützung. Indem wir dies sagen, wiederhohlen wir den Angriff. Wir bleiben gefährlich. Weil niemand alleine vor Gericht stehen wird. Niemand ist alleine in ihrer/seiner Zelle. Die Logik des Gefängnis wirkt nicht. Die Idee und die Bedeutung des Angriffs bleibt am Leben und wächst. Damit und indem wir neue Ziele aussuchen, weiterhin angreifen, den Kampf leben, helfen wir unseren Gefährt_innen mehr, als wenn wir uns dem Justizapparat opfern. Wir setzten das fort, wofür sie einstehen. Wir fahren damit fort, uns selbst zu sein. Wir bleiben Anarchist_innen.